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der Begriff „Moksha":

1) „Allgemeine Geschichte der Philosophie“, Bd I.3., Seiten 504 - 506

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Kurze Darstellung des Sâñkhyasystems nach der Sâñkhya-Kârikâ.

und Pflanzen bestehend); nach oben hin überwiegt in der Schöpfung das Sattvam, in der Mitte das Rajas, nach unten hin das Tamas. Da alle Wesen vom Brahmán bis zu den Pflanzen herab wandernde Seelen sind, also Purusha's, welche mit ihrem aus Sattvam, Rajas und Tamas bestehenden Liñgam gleichmäßig umkleidet sind und es bis zur Erlösung bleiben, so kann sich das Überwiegen des Sattvam bei den Göttern, des Rajas bei den Menschen, des Tamas bei Tieren und Pflanzen nur auf die Ausstattung der Liñga's mit den gleichfalls aus den drei Guņa's bestehenden Bhâva's beziehen, denn diese sind es, welche je nach ihrer Erwerbung im vorhergehenden Lebenslauf das neue Dasein eines bestimmten Purusha als Gott, Mensch, "Tier oder Pflanze bedingen.

 

VI. Eschatologie

oder die Lehre von der Gebundenheit und Erlösung.

 

Bandha, die Gebundenheit

§ 35. Die Lehre von der Gebundenheit und Erlösung des Purusha oder, genauer gesagt, von dem Gebundensein und der Loslösung der Prakṛiti von dem Purusha beherrscht das ganze System und mußte daher zum vollern Verständnisse alles einzelnen schon vielfach herangezogen werden, so daß wir uns hier damit begnügen können, den letzten Teil der Kârikâ Vers 57—68, welcher seiner Form nach als Nachtrag erscheint und die eschatologischen Fragen (welche auch bei Platon in Mythen gekleidet zu werden pflegen) in schönen und ausdrucksvollen Bildern behandelt, hier in der Kürze noch zu überblicken. Nachdem in den Schlußversen des vorhergehenden Teiles (55—56) auf das unaufhörlich durch Geburt und Tod veranlaßte, wenn auch nur auf einem Irrtum beruhende Leiden des Purusha und die Bemühungen der Prakṛiti zur Hebung desselben hingewiesen worden war, so folgt zunächst Vers 57—60 ein Abschnitt, welcher (nach unserer Auffassung des Verses 59) den Zustand der Gebundenheit schildert. Das unbewußte Bemühen der Prakṛiti zur Erlösung des Purusha wird mit dem unbewußten Ausströmen der Milch zur Ernährung des Kalbes verglichen, und das sehnsüchtige

 

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VI. Eschatologie.

Verlangen der Prakṛiti nach Erlösung wird durch die Sehnsucht erläutert, mit welcher wir nach der Verwirklichung irdischer Ziele streben. Es folgt dann Vers 59 der Vergleich der Prakṛiti mit der Tänzerin, welche auftritt, vor dem Zuschauer ihre Reize entfaltet und sich dann zurückzieht, um immer wieder auß neue aufzutreten und dasselbe Spiel zu beginnen. In rührender Weise schildert Vers 60 ihr hilfreiches Bemühen im Interesse des völlig tatenlosen Purusha, ein Bemühen, welches als apârthaka, ,,selbstlos", wie man gewöhnlich übersetzt, bezeichnet wird. Aber wenn man an die Vers 62 folgende und im Sinne des Systems ganz richtige Bemerkung denkt, daß es nicht der in ewiger Unberührbarkeit verharrende Purusha (vgl. Bṛih. Up. 4,3,15 asañgo hi ayam purushaḥ) ist, sondern vielmehr die Prakḥiti, welche der Seelenwanderung unterliegt, gebunden ist und endlich erlöst wird, so wird man lieber geneigt sein, apârthaka nicht durch ,,selbstlos", sondern durch ,,zwecklos" zu übersetzen und von den unzähligen, der Erlösung vorhergehenden Selbstentfaltungen der Prakṛiti verstehen, welche nicht zum Ziele führten.

 

Moksha, die Erlösung

§ 36. Erst von Vers 61 an würde nach dieser Auffassung bis zum Schlusse des Verses 68 die Lehre von der Erlösung folgen.

Sie beginnt mit dem prächtigen Vergleiche der Prakyiti mit
dem verschämten Mädchen, welches, bei Enthüllung seiner Heimlichkeiten von einem Manne belauscht, vor ihm flieht, um sich nie wieder seinem Blicke auszusetzen. Dieses Fliehen, sehr verschieden von dem obenerwähnten Zurücktreten. der Tänzerin, ist dann die definitive Erlösung, welche, wie Vers 62 versichert, nur eine Loslösung der Prakṛiti vom Purusha, nicht aber ein Vorgang ist, von welchem dieser selbst irgendwie betroffen werden könnte. Mit der Erlösung fallen dann von den acht Bhâva's die sieben ersten, durch welche die Prakṛiti sich selbst durch sich selbst gebunden hatte, hinweg, und nur der achte Bhâva 'bleibt übrig, jñânam, die Erkenntnis, durch welche der Purusha auf die Prakṛiti hinblickt ,,zufrieden, 'abseits als Zuschauer stehend". Ihm ist dann das absolute, irrtumlose, reine Bewußtsein zuteil geworden, das nichts übrig läßt zu wünschen, das Bewußtsein: ,,Ich bin nicht, es gibt kein Mein, es gibt kein Ich." Dann haben beide den
 

 

 

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Kurze Darstellung des Sâñkhyasystems nach der Sâñkhya-Kârikâ.

Frieden gefunden, der Purusha, indem er spricht: ,,Ich habe sie erkannt", die Prakṛiti, indem sie spricht: ,,Ich bin von ihm erkannt worden." Noch besteht die Verbindung (saṃyoga) beider vermöge des Gebundenseins des Purusha an den Leib eine Zeitlang fort ohne daß Veranlassung mehr zu einer abermaligen Entfaltung (sarga) vorläge, ähnlich wie die Töpferscheibe infolge des erhaltenen Schwunges noch eine Weile fortfährt sich zu drehen, auch nachdem das Gefäß fertig geworden ist. Tritt dann endlich bei dem schon zu Lebzeiten Erlösten der Hinfall des Leibes ein, dann ist das Ziel erreicht, dann kehrt die Prakṛiti für immer in sich selbst zurück, dann haben beide Teile die vollkommene und ewige Erlösung erlangt. Was weiter mit ihnen geschieht, davon schweigt das System, und in diesem Schweigen bekundet sich auch auf dieser späten Stufe der Entwicklung der große philosophische Takt des indischen Denkens, welches über Verhältnisse, deren Erkenntnis uns ein für allemal versagt bleibt, den Schleier des Geheimnisses ausbreitet.

 

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XV. Der Yoga des Patañjali.

Vorbemerkungen.

 

Der Yoga, diese originellste Erscheinung im indischen

Kulturleben, ist nicht, wie man wohl gemeint hat, aus alt-

hergebrachten Zauberbräuchen, wohl gar aus solchen, die von der verachteten Urbevölkerung überkommen wären, abzuleiten, sondern begreift sich in einfachster Weise als die natürliche Konsequenz der in den Upanishad's vorliegenden Âtmanlehre. Das Prinzip der Welt, das Brahman, der Âtman, ist ja nach dieser Lehre nicht zu suchen in unnahberaen fernen, sonbdern wohnt in unserem eigenem Innern als unser wahres, unverlierbares, unwandelbares Selbst. Als solches, als das Subjekt des Erkennens, ist der Inbegriff alles Göttlichen in jedem

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Deussen, Prof. Dr. Paul, „Allgemeine Geschichte der Philosophie, Erster Band, dritte Abteilung, „Die Nachvedische Philosophie der Inder, nebst einem Anhang über die Philosophie der Chinesen und Japaner", 4. Auflage, Leipzig/F.A. Brockhaus, 1922


2) aus:

Die Philosophie der Upanishads

 

Aus: "Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen", Zweiter Band, Dritte Abteilung: "Geschichte der Indischen Philosophie", von Prof. Dr. Paul Deussen, Leipzig, F.A. Brockhaus, 1917, 305 - 324

 

 

 

 

 


3) aus:

"Geschichte der Indischen Litteratur, Erster Band

von

Prof. M. Winternitz

 

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Tugend, Standhaftigkeit, Milde, Geradheit und Aufgeben aller Geschäfte. Was sollen dir Schätze, was sollen dir Verwandte, was soll dir ein Weib, o Brahmane, da du doch sterben wirst? Suche das in deinem Innern verborgene Selbst (den Ātman)! Wohin sind deine Ahnen, wohin ist dein Vater gegangen?«

So klingt dieser, scheinbar ganz in buddhistischen Gedankenkreisen sich bewegende Dialog in die Ātman-Lehre des Vedānta aus, die wir in den Upaniṣads kennen gelernt haben ¹). Und es ist dies durchaus nicht auffällig. Die alten indischen Asketensekten unterschieden sich kaum schärfer voneinander, als etwa die verschiedenen protestantischen Sekten im heutigen Großbritannien. Es ist daher auch kein Wunder, daß sich in den erbaulichen Geschichten, Dialogen und Weisheitssprüchen der in das Mahābhārata aufgenommenen Asketendichtung so viele Anklänge an die Upaniṣads, ebenso wie an die heiligen Texte der

Buddhisten und der Jainas finden.

 

Die lehrhaften Abschnitte des Mahābhārata.

 

Die meisten der im vorhergehenden Kapitel besprochenen Itihāsas und Itihāsa-Saṃvādas finden sich in den zahlreichen und umfangreichen lehrhaften Abschnitten des Mahābhārata. Solche bald kürzere, bald längere Abschnitte finden sich verstreut in fast allen Büchern des Mahābhārata, und sie handeln über die drei Dinge, welche die Inder mit den Namen Nīti, d. h. Lebensklugheit, insbesondere für Könige, daher auch »Politik«, Dharma, d. h. sowohl systematisches Recht als auch allgemeine Moral, und Mokṣa, d. h. »Erlösung« als das Endziel aller Philosophie, bezeichnen. Aber nicht immer werden diese Dinge in der Form von anmutigen Erzählungen und schönen Sprüchen vorgetragen, sondern wir finden auch lange Abschnitte, welche die trockensten Auseinandersetzungen — namentlich über Philosophie im XII. und über Recht im XIII. Buche — enthalten.

Schon aus unserer Inhaltsangabe ²) ist ersichtlich, daß die Bücher XII und XIII mit dem eigentlichen Epos gar nichts zu tun haben, sondern daß die im XIV. Buche erzählten Begebenheiten unmittelbar an den Schluß des XI. Buches anknüpfen. Die Einfügung dieser beiden umfangreichen Bücher ist aber

 

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¹ Oben S. 210 ff.

2 Vgl. oben S. 315

 

 

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durch die sonderbare Legende ermöglicht, deren wir schon oben gedacht haben. Bhīṣma, von unzähligen Pfeilen durchbohrt, liegt auf dem Schlachtfelde, beschließt aber, da er sich die Todesstunde selbst bestimmen kann, erst ein halbes Jahr später zu sterben ¹). Diese Zwischenzeit benützt der auf den Tod verwundete Held, der zugleich Rechtsgelehrter, Theologe und Yogin ist, um dem Yudhiṣṭhira Vorträge über Philosophie, Moral und Recht zu halten. Und zwar beginnt das XII. Buch damit, daß Yudhiṣṭhira ganz verzweifelt darüber ist, daß so viele wackere Krieger und nahe Verwandte hingemordet worden sind. Er ergeht sich in Selbstanklagen und beschließt in seiner Verzweiflung, sich von der Welt zurückzuziehen und als Waldeinsiedler sein Leben zu beschließen. Die Brüder suchen ihn davon abzubringen, und dies gibt Anlaß zu langen Auseinandersetzungen darüber, ob Entsagung und Weltflucht das richtige seien oder aber die Ausübung der Pflichten als Hausvater und König. Auch der weise Vyāsa ist zugegen und erklärt, daß ein König zuerst alle seine Pflichten erfüllen und sich erst am Abend seines Lebens in den Wald zurückziehen solle. Er verweist aber den Yudhiṣṭhira auf Bhīṣma, der ihm alle Belehrung über die Pflichten eines Königs erteilen werde. So begibt sich denn in der Tat Yudhiṣṭhira, nachdem er sich hat zum König weihen lassen, mit großem Gefolge zu dem noch immer auf dem Schlachtfeld liegenden Bhīṣma, um ihn zunächst über die Pflichten eines Königs und weiterhin über andere Dinge zu befragen. Die Reden des Bhīṣma über Recht, Moral und Philosophie füllen die Bücher XII und XIII.

Die erste Hälfte des XII. Buches (Šānti-Parvan), aus den zwei Abschnitten »Belehrung über die Königspflichten« und

»Belehrung über das Gesetz in Fällen von Not und Gefahr« ²) bestehend, handelt vor allem über die Würde und die Pflichten eines Königs, wobei gelegentlich Lehren der Politik (nīti) eingeschaltet werden, des weiteren aber auch über die Pflichten der vier Kasten und der vier Lebensstufen (Āšramas) überhaupt, über Pflichten gegen Eltern und Lehrer, über das richtige Ver-

 

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¹) Siehe oben S. 307 Anm.

²) Rājadharmānušāsana-parvan (1—130) und āpaddharmānušāsanaparvan (131—173).

 

 

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halten in Not und Gefahr, über Selbstbezähmung, Askese und Wahrheitsliebe, über das Verhältnis der drei Lebensziele ¹) u. dgl. mehr. Die zweite Hälfte des Buches, den Abschnitt der »Belehrung über die Pflichten, welche zur Erlösung führen« ²), enthaltend, ist hauptsächlich philosophischen Inhalts. Doch finden wir auch hier neben langen, trockenen und oft verworrenen Auseinandersetzungen über die Kosmogonie, die Psychologie, die Grundlagen der Ethik oder die Erlösungslehre auch viele der schönsten Legenden, Parabeln, Dialoge und moralischen Sentenzen, von denen einige bereits im vorhergehenden Kapitel besprochen worden sind. Und während dieses XII. Buch als Ganzes nur ein kunstlos zusammengewürfeltes Sammelsurium darstellt, enthält es doch viele kostbare Perlen der Poesie und der Weisheit. Auch als Quelle für die Geschichte der indischen Philosophie ist dieses Buch von unschätzbarem Wert.

Während das XII. Buch in gewissem Sinne als ein »Lehrbuch der Philosophie« bezeichnet werden kann, ist das XIII. Buch (Anušāsana-Parvan) im wesentlichcn nichts anderes als ein Lehrbuch des Rechts. Ja, es gibt ganze große Stücke in diesem Buch, welche entweder Zitate aus oder genaue Parallelstellen zu bekannten Rechtsbüchern — z. B. dem des Manu — enthalten. Wir werden in einem folgenden Abschnitte sehen, daß auch die indische Rechtslitteratur zum großen Teil aus metrischen Lehrbüchern besteht und zur didaktischen Poesie gehört. Das XIII. Buch des Mahābhārata unterscheidet sich von anderen Rechtsbüchern (Dharmašāstras) nur dadurch , daß die trockene Darstellung oft durch die Erzählung von — meist höchst ein

fältigen und geschmacklosen — Legenden ³) unterbrochen wird. Während das XII. Buch, wenn es auch nicht zum ursprünglichen Epos gehörte, doch schon in verhältnismäßig früher Zeit eingefügt worden sein dürfte, kann in bezug auf das XIII. Buch kaum ein Zweifel darüber herrschen, daß es noch viel später zu einem Bestandteil des Mahābhārata gemacht worden ist. Es trägt alle Spuren eines recht modernen Machwerkes an sich. Nirgends im Mahābhārata werden, um nur eines zu erwähnen,

 

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¹) Dharma, artha und kāma, vgl. oben S. 272 Anm.

²) Mokṣadharmānušāsana (174 ff.), vollständig übersetzt in Deussens »Vier philosophische Texte des Mahābhāratam«.

³) Von der Art, wie die oben S. 347 f. angeführten.

 

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Winternitz, Prof. Dr. Moriz (o. Prof an der deutschen Universität Prag), "Geschichte der Indischen Litteratur, Erster Band - Einleitung - der Veda - die volkstümlichen Epen mit den Purāṇas", zweite Auflage, Leipzig, C.F. Amleangs Verlag, 1909, Seite 362 - 364

 

Hinweis:

Eine Übersetzung des gesamten Mahābhārata ins Deutsche (und die von Prof. Winternitz erwähnten Kapitel und von Prof. Deussen übersetzten Kapitel) findet man auch bei www.pushpak.de

 

 


Pater Josef Abs, Halle aller Religionen - Dr Sanatana-Dharma:

Seiten 11,13, 25,111,141

 

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Dharma ward ausführlich beschrieben, und es wurde festgestellt, daß er das ganze Universum durchdringt als die dreifache Kombination von Sattva, Rajas und Tamas. Das "Äquilibrium" dieser drei Prinzipien ist Prakṛti und folglich auch von den drei Prinzipien darin. Das Ziel der Seele ist die Befreiung von den Wirkungen der drei Guṇas', die sie in ihrer Unwissenheit sich selbst zuschreibt. ¹)

Dies Ziel wird in unseren Schriften mit verschiedenen Namen benannt: Niḥśreyasa, Mokṣa, Mukti, Apavarga, Sāyujya, Nirvāṇa, die alle dasselbe besagen sollen.

Das ist nun das segensreiche Ziel des Menschen. Jedes Wesen auf Erden arbeitet bewußt oder unbewußt an der Erreichung dieses Zieles. Es kann nicht dagegen; es ist seine wahre Natur; denn es steht unter der eheren Faust des Dharma-Gesetzes; und sie Gesetz treibt zu diesem Ziele hin.

Von diesem Standpunkte aus beurteilen die Hindu's jede menschliche Handlung. Verhilft mir eine Handlung zu dem Ziel? Bringt eine Tat ein Wesen einen Schritt näher zu dieser hehren Bestimmung? Wenn ja, wird die Tat eine gute genannt: Dharma, Pflichterfüllung, Sittlichkeit, Tugend, also Puṇya. Wenn nein, ist sie eine schlechte, Adharma, unsittlich oder Pāpa.

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Indiens Religion, der Sanātana-Dharma, Eine Darstellung des Hinduismus, übersetzt und erläutert vom Kapuziner-Pater Pater Josef Abs, erschienen bei Kurt Schroeder in Bonn/Leipzig, Seite 11

 

 

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Zweites Kapitel. Der Dharma.

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Zweites Kapitel.

 

DER DHARMA.

 

Die Universalreligion.

 

 

Bedeutungen und Ableitungen des Wortes Dharma. - Das Wort Dharma ist abgeleitet von der Wurzel dhṛ, halten. Es bedeutet:"Das was hält" oder "Das, durch welches das Universum gehalten wird".

  Das Mahābhārata erkennt diese etymologische Erklärung von dharma an und bestimmt sie als alle Schöpfung haltend, so daß alles Dharma ist, was den Charakter des Haltens hat,1).

  Ähnlich sind Nutzen und Macht des Dharma in der Nārāyaṇā-Upaniṣad beschrieben, wo Dharma eine Quelle der Hilfe für alle und alles, ein Tilger der Sünden ist ²).

 

 

 

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Zweites Kapitel. Der Dharma.

 

Viel weiter ist noch die Bedeutung des Wortes Dharma. Jene Śakti (als göttliche Macht, göttliches Gesetz, göttlicher Wille) ist Dharma, die das ganze Universum durchdringt und ihr harmonisches Wirken lenkt, die der Urgrund ist für das Entstehen, die Erhaltung und die endliche Auflösung oder Aufnahme des Alls in das Göttliche.

 

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Dharma als göttliches Gesetz. - Der göttliche Wille oder das göttliche Gesetz, das sich also offenbart, wird gleichfalls Dharma genannt ³).

  Wir sehen das beständige Wirken der Kräfte der Anziehung und Abstoßung im Universum. Dharma ist die Kraft, die das Gleichgewicht beider Kräfte in der Schöpfung erhält. Die Sonne zieht die Erde an, die Erde bewegt sich um die Sonne, der Mond um die Erde, und alle bleiben in ihrer Lage; das ist das Wirken des Dharma. Es ist durch Dharma, daß ein Ding ist, was es ist 4). Wenn Dharma nur für einen Augenblick aufhörte zu wirken, würde alles und jedes in Verderb und Ruin untergehen; die Erde würde, den Mond niederdrängend, mit ihm in einem mächtigen Krach zusammenstoßen; die Sonne würde Planeten und kleinere Sonnen an sich ziehen, und das ganze Himmelsgebäude wäre in einem Augenblicke zerschmettert. Wo wäre unsere schöne Welt ohne diesen Dharma? Die Astronomie lehrt uns, daß jedes Weltsystem seine eigene Sonne, seine Planeten, Satelitten und Sterne hat, die alle im Gleichgewicht gehalten werden durch das Gesetz der Anziehung und Abstoßung. Die Sonne drängt und treibt die Erde nicht aus ihrer Stelle, sie zu zerstören. Die größeren Planeten zerschmettern die kleineren nicht zu Atomen, sie im Fluge treffend. Was erhält die Ordnung im Weltsystem? Es ist Dharma.

  Die materielle Wissenschaft nimmt an, die Kräfte von Anziehung und Abstoßung stehen im Zusammenhang mit Molekülen und Atomen. Es wurde gezeigt, daß Dharma das Gleichgewicht zwischen beiden hält. Alles in der Natur, der Praktṛti, von dem Sonnenball bis zum kleinsten Atom, steht unter dem Dharma, der schon als göttliche Macht oder göttliches Gesetz bezeichnet wurde.

 

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Die Beziehung von Dharma zur Schöpfung. - Unsere Welt entstand aus dem Dharma. Im Anfang der Schöpfung überwog die Kraft der Anziehung. Moleküle zogen Moleküle an, und so entstand diese sichtbare Welt. Die endliche Auflösung kommt durch das Überwiegen der Abstoßungskraft, - Moleküle werden so lange stoßen und

 

 

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Zweites Kapitel. Der Dharma

 

zerteilen, bis alle Dinge zersetzt sind; das Ende wird Pralya - allgemeiner Untergang - sein. Es gibt ein Gleichgewicht zwischen den Kräften der Anziehung und Abstoßungin allen Körperformen des Universums und das, was das Gleichgewicht bewirkt, ist Dharma.

 

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Dharma als Evolution. — Die alten Hindu's kannten das Prinzip der Entwicklung, lange, lange eher Darwin und andere es im Westen lehrten. Die Hinud's nehmen an, daß der Jīva (Lebewesen)5) auf seinem Wege zum Ziele, stetig, stufenweise weitergeht, erst als Pflanze, dann als Tier, durch unzählige Yoni's (Mutterschöße) oder Pforten der Wiedergeburt, bis er zuletzt als Mensch geboren wird. Es ist Dharma oder göttliches Gesetz, das den Jīva, noch ganz unentwickelt und fast empfindungslos im Anfang, zur Stufe des Menschentums, zum vollbewußten und vollentwickelten Wesen geführt hat. Und im Laufe der Zeit wird Dharma ihn noch höher leiten.

  Alle Jīva's befolgen diesen strengen Lauf der Entwicklung von der allerfrühesten denkbaren materiellen Daseinsbedingung bis zur höchsten, regelmäßigen Entwickelung in der Form von Selbstbewußtsein und denkendem menschlichen Sein.

  Die Stufen leiten vom grobmateriellen zum intelligenten Sein. Das Leben, als Erstanfang genommen, ist die Offenbarung im Pflanzenreich. Jedes entwickelte Sein entfaltet die Eigenschaften, die seinen konstituierenden Elementen entsprechen. Im pflanzlichen leben ist das "Grobe" vorherrschend, Sepise (anna), was in der wohldurchdachten Sprache der Ṛṣi's Annamya-kośa (Speise-Hülle) heißt. Dann kommt das schweißgeborene Leben (Svedaja-sṛṣṭi), in welchem der Annamya-kośa (Denksinn-Hülle) höher steht als die beiden andern. Zuletzt folgt die Jarāyuja-sṛṣṭi, das vom Mutterleib geborene Leben, wo der Vijñāmaya-kośa 6) (Freuden-Hülle) obenansteht. In dieser Stufe der Entwickelung offenbart sich klar das Gefühl der Freude in dem speziellen Akt des Lachens, das in keiner vorherigen Stufe beobachtet wurde. Schüler der Logik werden sich der treffenden Definition des Menchen erinnern: "Der Mensch ist ein lachendes Wesen." — Dharma ist es, der diese aufsteigende Kette der Entwickelung hält, aus der es kein Entrinnen gibt. Wer kann diesem allmächtigen, göttlichen Dharma widerstehen? Das Gesetz kennend, können wir nur mit ihm wirken, es unterstützen,

 

 

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Zweites Kapitel. Der Dharma

 

ohne Härte zu wirken, daß es uns sicher zu unserer Bestimmung leite. Gegen das Gesetz gehen heißt unsere Entwickelung hindern. Dharma selbst lehrt uns, wie wir feinfühlig und harmonisch mit ihm wirken können, um unsere stufenweise Entwickelung zu sichern.

  Alle Jīva's, die nicht Menschen sind, stehen völlig unter der Macht der Prakṛti (Natur) und folgen automatisch ihren Gesetzen.

  Diese Jīva's werden liebevoll genährt und aufgezogen von einer besorgten Mutter. In den niederen Stufen der Entwickelung gehorchen sie wie pflichttreue Kinder instinktiv ihren Anordnungen, in all, ihren Handlungen wie Essen, Trinken, Schlafen, Begatten.

  Wenn dann der Jīva Mensch wird, das höchstentwickelte Wesen auf Erden, dann entfaltet er die Macht des Verstandes und der Vernunft und teilweise des freien Willens. Erkenntnis erlangend, erwirbt er die schreckliche Macht über Gut und Böse. Jetzt strebt er sogar nach der Macht der Natur. Siehe, wie der Mensch durch seine Kenntnis der Naturgesetze deren Kräfte verwertet zu seinen Absichten! Als Folge seiner ungeheuren Kräfte, die den Stolz in ihm wecken, wagt der Mensch sogar, die Naturgesetze zu verletzen. Das Ergebnis davon ist, daß die stufenweise und stetige Entwickelung eines solchen Wesens gehemmt wird; es muß hinab auf die niederen Stufen. Dharma allein kann ihn wider emporheben.

  Deshalb können wir sagen: Das Gehen mit der Natur und nie gegen sie, ihre Gesetze befolgend und stufenmäßig uns entwickelnd, bis wir zuletzt das Ziel unserer Entwickelung erreichen, - das ist Dharma. Das Zurückfallen in die niederen Stufen der Entwickelung durch Zuwiderhandeln gegen die Natur und ihre Gesetze, - das ist Adharma oder Nicht-Dharma.

 

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Dharma im Menschen. - Die indischen Ṛṣi's erklären den Begriff des Dharma noch in anderer Weise. Sie sagen, daß alle geschaffenen Dinge drei Guṇa's, Prinzipien, haben, nämlich: Sattya (Güte, Licht, Glückseligkeit, Reinheit, usw.), Rajas (Aktivität), Tamas (Übel, Dunkel, Unwissenheit, Inaktivität), die später erklärt werden. Die Handlungen, die die Prinzipien von Tamas und Rajas unterdrücken und das Wachstum von Sattva befördern, sind Dharma. 7).

  Im Universum offenbart sich das Prinzip des Rajas als Anziehungskraft, Tamas als Abstoßungskraft. Was das Gleichgewicht beider Prinzipien in der Welt erhält, ist, wie schon gesagt, Dharma.

  Im Menschen offenbart sich Rajas als Rāga (Neigung) und Tamas als Dveṣa (Abneigung). Wo das Gleichgewicht zwischen beiden im Menschenherzen waltet, tritt Sattva als Erkenntnis in die Erscheinung.

 

 

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Zweites Kapitel. Der Dharma

 

Jedes Handeln, das diesen Zustand bewirkt, ist Dharma. Der Jīva wandert gemäß dem Prinzip der Evolution folgenweise durch die Stufen des Pflanzenlebens, des Schweißlebens, des eingeborenen Lebens, des leibgeborenen Lebens, Bewußtsein und Macht höher und höher entfaltend, bis er den Zustand des Menschen erreicht, wo sein Bewußtsein zum vollen Selbst-Bewußtsein entwickelt wird. Deshalb ist kein Wesen außer dem Menschen verantwortlich zu machen für gute und böse Taten oder, mit anderen Worten, für Puṇya und Pāpa (Verdienst und Sünde)8). Die Handlungen des Menschen, ob sie auf Geist, Leib odr Worte sich beziehen, die die Erkenntnis vermehren und zur Unterscheidung von Dharma und Adharma führen, werden in den Veda's Dharma genannt.

 

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Der Dharma der Hindu's ― Der Hindu-Dharma ist das eherne Naturgesetz. Da dies Gesetz alldurchdringend ist, muß jeder Mensch und jede Nation auf der Erde, bewußt oder unbewußt, dem Hindu-Dharma unterworfen sein. Alle Religionen der Welt gehören unter diesen Dharma.

  Wir kennen die Namen verschiedener Glaubensrichtungen unter dem Namen Dharma, wie Buddhismus, Jainismus, Christentum, Mohamedanismus. Aber Indiens ewiger Dharma ist "der Dharma" schlechthin; es ist der Universal-Dharma.

  Obwohl in unserer modernen Zeit dieser ewige Dharma mit verschiedenen Lieblingsnamen benannt worden ist, so finden wir in den heiligen Hinud-Schriften gar keine anderen Namen als "der Dharma". Fürwahr, "der Dharma" ist der einzige passende Name dafür, auf Grund der Universalität, Liberalität, der friedlichen Toleranz und einer alles umfassenden Sphäre, wie des allmächtigen Gottes selbst, der ihn charakterisiert.

 

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Die drei Guṇa's ― Dharma oder das göttliche Gesetz, auch Śakti genannt, wird in unseren Śāstra's, wie schon bemerkt, unter drei Gsichtspunkten betrachtet, als Sattva, Rajas und Tamas. Diese drei durchdringen die ganze Schöpfung. Das Vorherrschen von sattva im Menschen macht ihn rein, gut, beschaulich. Rajas bewirkt sein Handeln. Dieses Pinzip wiegt vor in den Nationen des Westens. Tamas gibt Anlaß zu schlechten Gedanken und üblen Leidenschaften.

  Jedes Menschen Ziel sollte es sein, das Sattva-Prinzip in sich zu vermehren. Denn dieses Prinzip hilft ihm positiv, die natürliche

 

 

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Zweites Kapitel. Der Dharma.

 

Entwicklung des Jīva zu seinem Ziele hin zu erreichen, während die anderen Prinzipien das verhindern. Das Wachen von Sattva im Menschen macht ihn selbstlos, sich selbst verleugnend, rein, heilig, gerecht und gütig. Es bringt ihm Segen und Frieden. So wird sein Weg zum Ziele nach und nach gerade und leicht. Deshalb sind die Taten, die das Wachstum dieses Guṇa befördern, Dharma.

  Tamas nährt Unwissenheit, Selbstsucht, Inaktivität, Eitelkeit, Gier, alle bösen Lüste und niederen Leidenschaften im Menschen. So wird seine Knechtschaft härter; er bleibt an die niedrige Erde gefesselt; seine Entwicklung wird verzögert. Deshalb ist alles, was dieser Guṇa fördert, böse, es ist Adharma, Nicht-Dharma.

  So fallen nach den Hindu-Śāstra's alle Handlungen des Menschen, ob geistige, ob physische, unter Dharma als Puṇya oder Tugend und unter Adharma als Pāpa oder Sünde. Aus diesem Grunde heißt es in den Hindu-Schriften, werden die Handlungen des Essens, Trinkens, Schlafens, Sehens, Hörnes und alle andere Handungen des Menschen als Dharma oder Adharma gewertet. Nach der Kenntnis, die wir von der Religion haben, liegen alle Dinger in der Welt und alle Handlungen der Lebewesen in der Sphäre von Dharma oder Adharma, mit denen sie verschlungen bleiben.

 

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Des Menschen Ziel gemäß dem Dharma.Für die Religion der Hindu's, als praktischer Teil des Dharma genommen, haben wir keinen besonderen Namen. Alle Religionsübungen gründen auf Sadā-cāra, auf den Übungen des Guten und Weisen. Das ganze Leben eines Hindu ist Religion. Bei andern Völkern ist Religion nur ein Teil des Lebens; eine scharfe Linie wird gezogen zwischen Religion und täglichem Leben, als hätte Religion wenig zu tun mit dem Alltagswirken. Nicht so die Hindu's. Sie machen keinen Unterschied zwischen Religion und Alltagsleben. Ihr ganzes Leben wird gelenkt von Religion, selbst der Tod ist bei ihnen Religion.

Hier möge bemerkt werden, daß die Gründer anderer hervorragender Religionen ihre entsprechenden Systeme in Dogmen und arbiträren Regeln formulierten, sie als unverletztliche Gesetze niderlegend, so daß es keinen Weg zur Erlösung gab als durch ihr besonderes "Glaubensbekenntnis", ihr "Credo". Aber der Sanātana-Dharma Indiens ist nicht gekennzeichnet durch einen solchen Geist der Engherzigkeit oder Ausschließlichkeit. Es ist kein besonderes "Credo", das nur eigenen Anhängern Erlösung verheißt; er ist der Universal-Dharma, für alle Menschen, für alle Zeiten.

Von dem Weisen Kaṇāda wird in seiner Vaiśeṣika-Philosophie der Dharma also definiert 9):

 

 

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Zweites Kapitel. Der Dharma.

 

 

"Was materiellen und geistigen Fortschritt und endliche Erlösung bewirkt, das ist Dharma."

  Dharma ward ausführlich beschrieben, und es wurde festgestellt, daß er das ganze Universum durchdringt als die dreifache Kombination von Sattva, Rajas und Tamas. Das "Äquilibrium" dieser drei Prinzipien ist Prakṛti und folglich auch von den drei Prinzipien darin. Das Ziel der Seele ist die Befreiung von den Wirkungen der drei Guṇas', die sie in ihrer Unwissenheit sich selbst zuschreibt 10).

Dies Ziel wird in unseren Schriften mit verschiedenen Namen benannt: Niḥśreyasa, Mokṣa, Mukti, Apavarga, Sāyujya, Nirvāṇa, die alle dasselbe besagen sollen.

  Das ist nun das segensreiche Ziel des Menschen. Jedes Wesen auf Erden arbeitet bewußt oder unbewußt an der Erreichung dieses Zieles. Es kann nicht dagegen; es ist seine wahre Natur; denn es steht unter der eheren Faust des Dharma-Gesetzes; und sie Gesetz treibt zu diesem Ziele hin.

  Von diesem Standpunkte aus beurteilen die Hindu's jede menschliche Handlung. Verhilft mir eine Handlung zu dem Ziel? Bringt eine Tat ein Wesen einen Schritt näher zu dieser hehren Bestimmung? Wenn ja, wird die Tat eine gute genannt: Dharma, Pflichterfüllung, Sittlichkeit, Tugend, also Puṇya. Wenn nein, ist sie eine schlechte, Adharma, unsittlich oder Pāpa.

  Verschiedene Mittel werden von den Ṛṣi's vorgeschrieben, dies Ziel zu erreichen, das höchste Wonne ist. Diese Mittel sind, wie verschiedene Wege, zu einer gemeinsamen Bestimmung hinleitend. Der Mensch kann den Weg wählen, der ihm am geeignesten erscheint. Er soll den Bruder nicht schelten, der, zu demselben Ziele eilend, einen andern Pfad betritt, der dessen Neigung, Temperament und Geschmack entspricht.

Aus der Verschiedenheit der Pfade können drei als die hauptsächlichsten genannt werden:

a) der Pfad von Dāna, Mildtätigkeit, Gabe;

b) der Pfad von Tapas, Buße.;

c) Der Pfad von Yajña, Opfer.

  Unter den letzten fallen die wohlbekannten Pfade von dem selbstlosen Werk oder Karma-yoga, der Liebe oder Bhakti-yoga, der Erkenntnis oder Jñāna-yoga, die im III. Kapitel behandelt werden.

 

Die Begriffe des Westens über Religion. ― Jetzt wollen wir kurz die Begriffe geben, die einige der größten Philosophen und Denker des Westens über Religion hatten.

  Nach Kant ist Religion "Moralität". Wenn wir alle unsere moralischen Pflichten als göttliche Gebote betrachten, ist das Re

 

 

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Zweites Kapitel. der Dharma.

 

ligion". Dann müssen wir bedenken, daß Kant diese Pflichten nicht deshalb für moralische Pflichten hält, weil sie auf einem göttlichen Gobote beruhen; nach Kant wäre das rein geoffenbarte Religion. Im Gegenteil, er sagt uns: ,,Weil wir uns ihrer unmittelbar als Pflichten bewuß sind, deshalb betrachten wir sie als göttliche Gobote,"

  Gemäß den Hindulehren sind Pflicht, Moralität, Erkenntnis usw. nicht Ziele in sich, sondern Mittel zum Ziele.

  Nach Fichte ist ,,Religion Erkenntnis; sie vermittelt dem Menschen eine klare Einsicht in sich selbst, beantwortet die höchsten Fragen, verhilft uns zu einer vollen Harmonie mit uns selbst und zu einer durchdringenden Heiligung unseres Gemütes".

  Diese Ansicht nähert sich der Sāṃkhya-Lehre.

  Hegels Ansicht ist folgende: "Religion ist, oder sollte es sein, vollkommene Freiheit; denn sie ist nichts mehr und nichts weniger als der göttliche Geist, der sich selbst in dem endlichen Geiste bewußt wird."

  Diese Ansicht nähert sich stark unserer Vedānta-Philosophie.

Nach Max Müller ist ,,Religion eine subjektive Fakultät zur Erfassung des Unendlichen."

  John Stuart Mill gibt folgende Auffassung der Religion.Er sagt: ,,Das Wesen der Religion ist das starke und ernste Hinwenden der Handlungen und Begierden auf ein ideales Objekt von der höchsten Erhabenheit, das alle selbstischen Objekte und Begierden überragt."

  Dies ist unser Bhakti-yoga, der ,,Pfad der Liebe", zur Erreichung des Höchsten.

  Professor Seely's Ansicht über Religion ist wiederum ähnlich unserem Bhakti-yoga. Er sagt:,,Die Worte Religion und Verehrung werden gewöhnlich und füglich auf die Gefühle bezogen, mit denen wir Gott betrachten. Aber diese Gefühle, Liebe, Scheu, Bewunderung, die zusammen Verehrung ausmachen, werden auch in veschiedenen Verbindungen für menchliche Wesen und selbst für vernunftlose Gegenstände ausgedrückt. Nicht ausschließlich, aber par excellence ist die Religion auf Gott gerichtet. Wenn Gefühle der Bewunderung sehr stark sind und zu gleicher Zeit ernst und bleibend, wiederholen sie sich in wiederkehrenden Akten; und hier entstehen Liturgie und Ritual. Religion ist das, was als habituelle und dauernde Bewunderung beschrieben werden kann."

  Diese Ansicht stimmt mit der obigen von Mill überein.

Endlich wollen wir die Ansicht eines andern großen Mannes, des Posityisten Comte wiedergeben. Er sagt: ,,Religion an sich drückt den Zustand vollkommener Einheit aus, die das unterscheidende

 

 

13

Zweites Kapitel der Dharma.

 

Merkmal der Existenz des Menschen ist, als individuelles und als soziales Wesen, weil alle Wesensteile seiner Natur, der moralischen und physischen, habituell eingestellt werden, zu einem gemeinsamen Zweck zu zielen."11)

  Wenn diese Auffassungen von Religion annehmbar sind, jede in ihrer eigenen Art, muß man zugeben, daß der indische Dharma der größte und edelste auf Erden ist, der alle obigen Ideen und Versuche zu einer letztgültigen Definition enthält. Sie sind nur etwas unvollkommene Auffassungen von Dharma. Aber der ewige Dharma der Hindu’s ist vollkommen in jeder Hinsicht. Widersprechendes ist nicht in den angeführten Ansichten über Indiens Dharma, der vollständig die Mängel aller anderen Religionen ersetzt. Der Sanātanadharma ist die älteste Religion, der Vater jeder andern, lebenden oder toten. Er steht ohnegleichen in der Tiefe und der Schönheit seiner herrlichen Philosophie.

 

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Nutzen von Dharma. — Das Ziel der Religion ist, wie schon gesagt, die Sicherstellung von Abhyudaya (materielle und geistige Wohlfahrt) und von Niḥśreyasa (vollkommenes, ewiges Glück). Für das bescheidene menschliche Wesen in seinem bescheidensten Urzustand ist ein Fortschritt von Körper und Geist notwendig, so daß es mit einem vollkommenen körperlichen Organismus sein Ziel ohne jegliches Hindernis erreichen kann. Die Hindu-Lehre stellt vier Dinge in das Werden des menschlichen Lebens ein; zwei gehören zum materiellen 'Körper, zwei zu dem geistigen Ziel. Die ersten sind: Artha (Besitz) und Kāma (Begier); die andern Dharma (Rechtlichkeit) und Mokṣa (Erlösung).12)

  Der Leser wird bemerken, welch hohe Auffassung hier von dem Nutzen des Dharma gegeben ist. Er ist ein Universal-Segen zum Fortschritt der gesamten Menschheit auf dem materiellen und geistigen Pfade zu Befreiung und Seligkeit, dem Ziele aller vorangegangenen Kämpfer durch unzählige Stufen des Werdens. Andere Religionen helfen dem Bekenner, wie wir gesehen, nur wenig. Aber der Hinduismus, wie er oben definiert und erklärt wurde, hat nichts Unbestimmtes und Verschwommenes. Er ist eine lebende, belebende und konkrete Führung für Menschen aller Klassen und aller Zeiten.

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Drittes Kapitel

 

Drittes Kapitel

 

DER DHARMĀṄGA

 

Die Gliederung des Dharma

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Indiens Religion, der Sanātana-Dharma, Eine Darstellung des Hinduismus, übersetzt und erläutert vom Kapuziner-Pater Pater Josef Abs, erschienen bei Kurt Schroeder in Bonn/Leipzig, Seite 5 bis 13

Will man Mißverständnisse möglichst vermeiden, liest man am Besten dieses Buch ganz.